Liebe Leserinnen und Leser,
der demografische Wandel betrifft auch die Schweiz, d. h., der Anteil der alten Menschen hat in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen und wird voraussichtlich auch in Zukunft weiter anwachsen. So waren im Jahr 2011 etwas mehr als 17 % der ständigen Wohnbevölkerung in der Schweiz 65 Jahre und älter, im Jahr 2021 lag der Anteil dieser Bevölkerungsgruppe bereits bei 19 % und wird voraussichtlich Mitte der 40iger Jahre die Marke von 25 % überschreiten.1 Das bedeutet aber auch, dass die altersgerechte Medizin zunehmend an Bedeutung gewinnt, zumal alte Menschen besonders häufig medizinische Hilfe benötigen. Was aber macht eine solche Altersmedizin bzw. Geriatrie aus? Welche Besonderheiten müssen bei geriatrischen Patienten beachtet werden? Und welche allgemeinen Therapieprinzipien ergeben sich aus den spezifischen Bedürfnissen dieser Patienten?
Was ist Geriatrie?
Die Geriatrie als medizinische Disziplin befasst sich mit den unterschiedlichen somatischen und psychiatrischen Erkrankungen älterer Menschen, wobei die körperlichen und geistigen, aber auch die funktionalen und sozialen Aspekte bei der Versorgung berücksichtigt werden müssen. Die Aufgaben der Altersmedizin beinhalten daher die eigentliche Therapie, aber auch die Risikoerkennung und frühzeitige Prävention, die Rehabilitation und Weiterversorgung der Betroffenen sowie die Begleitung der Patienten bis zum Tod.2
Welche Besonderheiten müssen beim geriatrischen Patienten beachtet werden?
Definitionsgemäss sind geriatrische Patienten über 70 Jahre alt und weisen zudem mehrere alterstypische Erkrankungen (Multimorbidität) auf oder sie haben ein Lebensalter von mehr als 80 Jahren erreicht und zeigen eine alterstypisch erhöhte Vulnerabilität z. B. aufgrund von Komplikationen und Folgeerkrankungen, wegen der Gefahr einer Chronifizierung oder weil das Risiko für eine abnehmende Selbstständigkeit im Alltag erhöht ist.2–4 Alter allein definiert also noch keinen geriatrischen Patienten, sondern es müssen weitere Faktoren hinzukommen.
In der klinischen Praxis weisen geriatrische Patienten häufig physiologische Veränderungen auf, die auch unter dem Begriff «geriatrische I’s» zusammengefasst werden. Hierzu gehören2,3:
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Inkontinenz: fehlende Kontrolle über den Harn- und Stuhlabgang
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Intellektueller Verlust: Abnahme der geistigen Leistungsfähigkeit z. B. infolge von Morbus Alzheimer oder einer Multi-Infarkt-Demenz
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Instabilität: Muskelschwäche mit Schwindel sowie Hör- bzw. Sehschwierigkeiten, was auch zu einer erhöhten Sturzneigung führen kann.
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Immobilität: eingeschränkte oder aufgehobene Beweglichkeit z. B. als Folge von degenerativen Muskel-, Knochen- und Gelenkveränderungen.
Hinzu kommen häufig Fehl- und Mangelernährung infolge von vermindertem Appetit sowie ein reduziertes Durstempfinden, was zu Störungen im Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt führen kann. Chronische Schmerzen, Schluckbeschwerden, Schlafstörungen und erhöhte Infektanfälligkeit sind ebenfalls typische Probleme des höheren Alters.2,3 Zu den häufigen Krankheiten, die bei geriatrischen Patienten diagnostiziert werden, gehören unter anderem Schlaganfall, Arterienverschluss der Beine, Herzinsuffizienz, Osteoporose und Knochenbrüche, Arthrose, Morbus Parkinson, Depression, Suizidalität und Demenz.2,3 Im Alter ist zudem das Risiko erhöht, an Krebs oder Diabetes mellitus zu erkranken.2,3
Bei geriatrischen Patienten muss im Hinblick auf die Diagnose und Behandlung von Krankheiten beachtet werden, dass sich Krankheitsbilder atypisch präsentieren können, beispielsweise weil sie durch fehlende körperliche Bewegung maskiert werden oder weil es zu Symptomabschwächungen oder -verschiebungen kommen kann.2 Einige Erkrankungen treten erst nach langer Latenzzeit in Erscheinung wie z. B. chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) nach langjährigem Rauchen oder Leberzirrhose nach chronischem Alkoholkonsum.2 Viele geriatrische Patienten sind multimorbid und erhalten deswegen auch mehrere Medikamente (Mehrfachmedikation).2 Zudem ist häufig eine Medikamentenintoleranz zu beobachten.2
Nach welchen Therapieprinzipien sollten geriatrische Patienten behandelt werden?
Die komplexen Probleme geriatrischer Patienten erfordern eine fachübergreifende, interprofessionelle Behandlung, die sowohl die somatischen als auch die psychosozialen Aspekte des Alterns berücksichtigt.2,3 Dabei müssen Ärzte und Pflegefachkräfte, aber auch Psychotherapeuten, Logotherapeuten, Ergo- und Physiotherapeuten sowie Ernährungsberater und Mitarbeiter des Sozialdienstes eingebunden werden.2,3 Die Einbeziehung der Angehörigen und des sozialen Umfelds der Patienten ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil der geriatrischen Behandlung. Ziel der Altersmedizin ist es, die Lebensqualität, Selbständigkeit und Funktionsfähigkeit älterer Menschen zu erhalten oder zu verbessern und damit Pflegebedürftigkeit und soziale Isolation zu vermeiden oder hinauszuzögern.5 Dabei wird der Patient zunächst im Rahmen eines geriatrischen Assessments auf verschiedene Aspekte seiner körperlichen, geistigen und sozialen Situation hin untersucht und umfassend bewertet.5 Im Anschluss wird ein individueller Behandlungs- bzw. Rehabilitationsplan erstellt, der dann von einem geriatrischen Behandlungsteam unter ärztlicher Leitung umgesetzt wird.5
Die Geriatrie ist somit ein Bereich der Medizin, der aufgrund der demografischen Entwicklung in Zukunft immer wichtiger wird. Um den spezifischen Bedürfnissen der geriatrischen Patienten bestmöglich gerecht zu werden, sind flächendeckende Versorgungsangebote notwendig. Dies wiederum erfordert ausgebildete Fachkräfte und darüber hinaus weitere Ressourcen, was in Zeiten leerer Kassen und fehlenden Personals eine grosse Herausforderung für das Gesundheitswesen darstellt.
Wir freuen uns, Ihnen die neue Ausgabe der healthbook TIMES präsentieren zu dürfen. Sie erwarten Beiträge aus den Bereichen Neurologie, Psychiatrie, Rheumatologie, Gastroenterologie, Ophthalmologie, Urologie/Gynäkologie, Dermatologie, Infektiologie, Pneumologie, Diabetologie, Geriatrie und Long COVlD. Wir wünschen Ihnen viel Spass beim Lesen der Artikel und freuen uns über Ihr Feedback.
Dr. Ellen Heitlinger
Editor-In-Chief